100 Meilen Berlin – Mauerweglauf

Ich hatte, seitdem ich weiß dass es diesen Lauf gibt, schon immer die Absicht die 100 Meilen in Berlin zu laufen. Allerdings passten in den letzten Jahren die Termine immer nicht und so sollten 10 Jahre in`s Land gehen bevor ich an der Startlinie stehe.

Die 100 Meilen in Berlin bieten eine echte Möglichkeit die deutsche und internationale Ultralauf-Community zu treffen. So war das Briefing am Freitagabend nicht nur ein Pflichttermin, sondern auch ein guter Anlass alle die Heros und Lauffreunde, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte bzw. teilweise nur aus Social Media kenne, mal persönlich zu treffen.

Dimension ist was der Kopf draus macht und die Nervosität stieg exponentiell, wie die Anzahl der Tage bis zum Start abnahm. Meine Lauferfahrung der letzten 20 Jahre hat geholfen meine Nervosität ganz gut in den Griff zu kriegen und eine einigermaßen ruhige Nacht auf den Samstag zu haben.

3:30Uhr klingelt der Wecker und ich schleiche mich in`s Bad, was natürlich nicht gelingt und meine Frau ist jetzt auch putz munter, naja fast 😉.

Morgentoilette, Haferflockenfrühstück, Anziehen und 4:45Uhr stand ich an der Bushaltestelle am Berliner Hbf und wartete auf den Bus zum Start in`s Erika-Heß-Stadion in Berlin Mitte.

Dort war bereits reichlich Trubel und auch hier wieder Begrüßung vieler Bekannter und Freunde. Meine Stimmung war angespannt – ein paar Zweifel über die Sinnhaftigkeit 100 Meilen laufen zu wollen kamen bei mir schon auf.

Pünktlich 6Uhr Start und wir liefen, vorbei am Mauerpark Bernauer Straße, raus aus Berlin. In der Stadt war das alles sehr abwechslungsreich und die ersten Kilometer waren schnell abgespult.

Dann gings in die Wälder nordöstlich Berlins und das hieß … ein Baum, kein Baum, Baum, kein Baum, Sand, grüne/braune Wiesen, und wieder Bäume, … Bäume, … in die Brandenburger Pampa. Abwechslung sieht anders aus. Wie kommt man auf so eine Streckenführung? Wenn wir ehrlich sind, dann ist es toll, dass dieses Bauwerk keinen Bestand haben durfte. Umso wichtiger ist es, dass wir all denen gedenken die dort so sinnlos ihr Leben lassen mussten 😞 . Das war schon ergreifend immer wieder die Gedenktafeln zu sehen und sich bewusst zu werden, wie viele das waren – allein in Berlin.

Noch viel wichtiger ist es, dass wir sowas nie wieder zulassen. Gerade wenn wir heute auf die Welt gucken, wird mir angst und bange was für einen Bockmist wir da gerade wieder anstellen – und da meine ich beide Seiten, egal ob wir im Osten oder Westen zu Hause sind. Lassen wir uns nichts vormachen, es ging in der Vergangenheit und es geht auch heute NIE um Menschenrechte, es geht IMMER um Einfluss, Macht, Bodenschätze und Geld!

Ich hatte zum Tracken und zur Aufzeichnung der Strecke meinen Wahoo Radkomputer mit, der permanent alle 3-10 Sekunden einen Piepston von sich gab und ich muss ständig erklären was das denn ist. Dass das meine Herzfrequenz sein sollte, hat mir keiner meiner Mitläufer wirklich geglaubt. Ausstellen konnte ich das Piepsen auch nicht und so hab ich`s einfach ignoriert.

Ca. ab km 30 meldete sich mein Kopf mit der Ansage „… was soll der Scheiß, wollen wir nicht nach Hause laufen, … ich habe keine Lust mehr …“. Ich kriegte die Füße nicht mehr hoch und bin natürlich über das nächste Loch im Boden gestolpert und gestürzt. Außer zwei kleinen Schrammen an jedem Knie ist zwar nix passiert, aber ich war genervt. Wieso funktioniert das heute nicht? Die Temperaturen sind nicht so heiß wie angekündigt, es ist schwül ja, aber zum Glück bewölkt ☁️ und trocken – die Sonne ☀️ kam erst nach 17Uhr. Eigentlich ideales Laufwetter, damit sollte ich doch umgehen können. Wie aber will ich so die nächsten 130km durchstehen?

Natürlich weiß ich, dass gerade bei langen Läufen der Kopf oder/und Körper manchmal komische Sachen veranstalten und wir durch tiefe Täler müssen, um die hohen Höhen zu erreichen. Aber heute brauchte ich sowas bitte nicht, vor allem so zeitig auf der Strecke.

Zumindest die Ernährung hat super funktioniert und am ersten Wechselpunkt bei km36, am Ruderclub Oberhavel in Hennigsdorf, habe ich meinen Gels nachgeladen.

In Schönwalde am VP9 (km48,9) wartete überraschend Peter Fleischer (der dort wohnt) vom Dresden Marathonverein auf mich und versuchte mich über die nächsten Kilometer abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Das hat nur teilweise funktioniert. Bei km49 überholte mich Peter Ossendorf, der mir die Ansage macht „Du steigst nicht aus. Wenn Du das tust, komm ich zurück und hol Dich. Du läufst durch …“. Richtig überzeugt war ich nicht. Peter musste wegen Krämpfen und Magenproblemen bei km80 leider selbst aussteigen – schade. Aber Danke für deinen Motivations Seitenhieb.

Am VP10 Falkenseer Chaussee (km54,6) wartete meine Familie. Die Motivation dort tat gut und die Pause wurde mit ca. 20Minuten! deshalb etwas länger. Trinken, Essen, Gespräch mit Carsten (dem Rennarzt) über meine Knie, mit denen aber alles in Ordnung war.

Ich entschied erstmal bis Potsdam weiter zu laufen und auf dem Weg dorthin über ein DNF oder Weiterlaufen zu entscheiden.

Auf den nächsten Kilometern gingen die Diskussionen zwischen meinem Kopf und meinen Beinen weiter. Der Kopf hatte keine Lust mehr und die Beine wollten Laufen.

Nach dem Lösen von mehreren Rechenaufgaben, einigten wir uns auf folgenden Kompromiss: Wenn ich es schaffe, abwechselnd mit Gehpausen und langsamen Laufen, pro Stunde mindestens eine Distanz von 6 bis 7km zu bewältigen, dann habe ich am Ende immer noch 2h Luft zum Zeitlimit von 30h. Also was soll die Diskussion. Das Argument hat meinen Kopf überzeugt und ab dem Zeitpunkt gab`s keine Diskussionen mehr – jetzt wird GELAUFEN!

Kurz vor Potsdam konnten wir dem Weg der Mauer nicht im Original folgen, denn dann hätten wir durch den Jungfernsee schwimmen müssen. Da wir das nicht wollten bzw. nicht konnten, mussten wir der Straße folgen und den Jungfernsee umrunden.

Kurz hinter dem Verpflegungspunkt Brauhaus Meierei (VP15 km85) im Park Cecilienhof wartete meine Familie in Erwartung, dass ich mit Ihnen zurück zum Hotel fahren würde. Aber mein Kopf und ich, wir hatten ja entschieden weiterzulaufen. Nach einer kurzen Erklärung meines aktuellen Status`, ließ ich sie mit zweifelnden Blicken zurück und lief weiter über die geschichtsträchtige Glienicker Brücke, wieder raus aus Potsdam.

Nach VP16 km92 in Potsdam Griebnitzsee kam wieder brandenburgische Pampa … ein Baum, kein Baum … meinem Kopf war das mittlerweile egal, wir hatten ja einen Kompromiss geschlossen.

Und es kam die Nacht, also kurzer Stopp, Stirnlampe 💡aufsetzen und Warnweste anziehen.

Kurz vor dem Wechselpunkt3 km105,4 am Sportplatz Teltow kam er dann doch, der angekündigte Regen und es schüttete aus Kannen. Nachts irgendwas zwischen 22 und 23Uhr mitten in der Pampa war es für mich eine Wohltat – ca. 20°C Lufttemperatur und Landregen. Ich fand`s herrlich, es war für mich ein echtes Highlight – nass bis auf die Haut und trotzdem warm.

Gegen 0:30Uhr kam ich am Sportplatz Teltow dem WP3 km105 an. Eigentlich eine Gelegenheit die nassen Klamotten loszuwerden, aber ich entschied mich das nicht zu tun. Schuhe wechseln war auch nicht nötig – keine Blasen, keine Reibstellen. Meinen Füßen ging`s gut und ich hatte Bock weiter zu laufen. Was war nur los – der Läufergott wollte dass ich ankomme 😉.

Viel wichtiger war hier Energie tanken und essen. Ich wunderte mich über meinen Appetit auf Wurstbrot und Fettschnitte. Das hat mein Magen in der Vergangenheit immer verweigert, aber der Uhrzeit und unserem Kompromiss geschuldet hat er sich wahrscheinlich gedacht – okay zur Feier des Tages und der Strecke, versuch auch ich mal was Neues. Und es hat funktioniert. Keine Magenkrämpfe und auch kein Energieverlust, im Gegenteil die Stimmung stieg. Ein weiterer, diesmal kurzer Regenguss bestätigte auch meinen Entschluss in den nassen Sachen weiterzulaufen. Nach dem Regen kam die Hitze allerdings wieder und eine Stunde später war ich wieder trocken.

Hinter Rudow (VP22 km133) kamen 6km auf schnurgeradem Weg, eingeklemmt zwischen Treptow Kanal und A113. Sehr abwechslungsreich – ich habe genau gesehen, wo ich hinmusste. Die Stirnlampen meiner Mitläufer von hinten, zeigten mir den Weg – es zog sich.

Die Morgendämmerung kam und es wurde heller. Kurz vor der Sonnenallee war es 6Uhr und die Stirnlampen wurde eingepackt. Sonnenaufgänge in Berlin hab ich schon oft erlebt und der hier war jetzt nicht so spektakulär. Aber hey, wenn man 144km in den Beinen hat und das Ziel fast schon sehen kann, macht es das zu einem ganz besonderen Ereignis.

Beim Blick auf die Uhr war jetzt eine Zielzeit gegen 9:45Uhr sehr realistisch. Die Ampelschaltungen in Berlin sorgten dafür, dass wir im Stopp and Go Modus unterwegs waren. Nach der Oberbaumbrücke kam die East Side Gallery (VP25 km151) und auch der drittletzte Verpflegungspunkt. Also nochmal Energie tanken und weiter auf die letzten 12km.

Am Berliner Ostbahnhof, kam Carsten, nochmal vorbei und fragte nach Stimmung und Gemütslage und meinen Knien. Das fand ich schon bemerkenswert. Mir gings gut und ich „lief“ den nächsten Highlights – Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor, Reichstag … und dem Ziel entgegen.

Kurz vorm Checkpoint Charlie stand Thomas am Straßenrand und wollte mich ein paar Kilometer bis zum Schiffbauerdamm begleiten. Ich rede ja im Normalfall schon nicht viel, aber jetzt wollte ich nur noch genießen und hatte auch keine Lust zu Konversation. Das hat er dankenswerter Weise akzeptiert. Auch er fragte mich ob`s mir gut geht – wahrscheinlich hatte ich meine Gesichtszüge gerade nicht im Griff.

Am Schiffbauer Damm stand dann der Rest meiner Familie und schickte mich auf die letzten 3km. Irgendwie haben sie es dann auch vor mir ins Ziel geschafft – ich war im Schneckentempo unterwegs.

Auf der Zielrunde im Stadion hab ich dann doch tatsächlich noch einen „Zielsprint“ hingekriegt – ich empfand das zumindest so.

Abklatschen mit Carsten, der Familie, dem Moderator und ich hatte es geschafft.

162km – was für eine Zahl, bin ich das wirklich gelaufen?

Im Ziel noch ein Erdinger Alkoholfrei und dann wollten wir mit dem Bus raus aus der Wärme und schnell in`s Hotel. Den Bus ich hätte allerdings lieber doch nicht besteigen sollen, vor allem nicht mit Corona-Maske. Nach ein paar Metern konnte ich nur noch sagen – „… ich glaub ich muss aussteigen …“. Dann fand ich mich auf dem Fußweg wieder. Mein Kreislauf fand die Busfahrt gar nicht witzig und hatte sich `ne ganz kurze Auszeit genommen. Füße hoch, Getränke und Kühlung verhalfen mir schnell wieder auf die Beine.  Nach der Dusche im Hotel ging`s mir wieder gut.

Allerdings hatte ich jetzt keine Lust mehr auf die Siegerehrung. Wir entschieden auf dem Weg nach Hause einen Zwischenstopp im H4 Hotel einzulegen, die Siegerehrung zu schwänzen und die Möglichkeit zu nutzen, meine Medaille vorher abzuholen.

So richtig realisiert, dass ich 162km am Stück gelaufen bin, hab ich heute, 7 Tage später, immer noch nicht. Das kuriose ist, ich habe keinerlei Blessuren, Blasen oder sonst was. Der Muskelkater ist auch schon wieder weg und ich hab schon wieder Lust die Laufschuhe anzuziehen – was ich vernünftigerweise erst nächste Woche und auch nur für eine kleine lockere Runde tun werde.

100 Meilen ist dann doch eine völlig neue Dimension und wir alle, die wir auf den 100 Meilen gestartet, egal ob ausgestiegen sind oder gefinished haben – ein bissel verrückt sind wir schon.

 

Zum Schluss muss ich unbedingt DANKE sagen

  • liebes Org-Team um Harald Reiff, Carsten Bölke, das DRK und vor allem ALLE Helfer – das war GANZ GANZ großes Kino, ihr habt einen grandiosen Job gemacht. Als Veranstalter weiß ich was das für ein Kraftakt ist.
  • Danke auch an meine Familie, die mich – auch wenn sie nicht immer alles nachvollziehen kann und gut finden was ich so tue – immer und überall 100%ig unterstützt. Ihr habt an dem Wochenende mindestens genauso viele Kalorien verbraucht wie ich und musstet kreuz und quer durch Berlin fahren, um rechtzeitig an den vereinbarten Punkten zu sein – DANKE

Ein bissel Statistik

meine Laufzeit:              27:36:50h
Strecke:                            161,30 km (Pace 10:16 min/km)
Platz gesamt:                  232
Platz AK65:                       10

Einzelläufer                   425 (gestartet)                     296 (gefinished)
2er Staffel                         36                                          22
4er Staffel                         64                                          61
10+ Staffel                         51                                          50
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Über diesen Lauf und meine anderen Wettkämpfe vm Ultralauf bis zum Ironman erzähle ich gern in einem Vortrag. Dabei gebe ich auf sympathische und kompetente Weise einen Einblick in den Alltag eines ambitionierten Sportlers, Trainers und Organisators von Sportveranstaltungen. Spanne einen Bogen in das tägliche Arbeitsleben und gehe auf die Themen Zeitmanagement, Selbstorganisation, Motivation und “work life balance” ein. Für einen Termin schickt mir bitte einfach eine Anfrage über das Kontaktformular